Lieferketten in Not
Kritische Lage bis mindestens Mitte 2023
Der Vorstand der Bundesvereinigung Logistik (BVL) setzte bei seiner Sitzung in Duisburg auch eine aktuelle Stunde zu den aktuellen Herausforderungen in den Lieferketten und bei der Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten an. Dabei zeichneten die Vorstände einhellig ein düsteres Bild für den weiteren Jahresverlauf. Demnach sind alle bisherigen Prognosen noch deutlich zu optimistisch.
„Die Zahl der Schiffe, die vor Shanghai auf die Entladung waren, hat eine ganz neue Dimension. Allein das wird die Wirtschaft massiv belasten“, so Dorothea von Boxberg, Vorstandsvorsitzende von Lufthansa Cargo. Auch Josip T. Tomasevic, Senior Vice President bei der AGCO Corporation (u.a. Fendt), warnte: „Da kommt noch eine Welle auf uns zu. Selbst optimistisch gesehen werden die Probleme bis mindestens Mitte 2023 andauern.“ „Die Lieferketten kann man zurzeit nicht kontrollieren. Das wird eine riesige Dimension bekommen und Verzögerungen, die wir so noch nicht kennen“, ergänzte Tim Scharwath, CEO DHL Global Forwarding Freight.
Als größte aktuelle Gefahr bezeichneten Teilnehmer aus der Industrie die Energiekrise und die Rohstoffknappheit. „Es gibt derzeit zwei Standortnachteile für Europa: Den Krieg und die Energie“, so Josip Tomasevic.
Eine „wirtschaftliche Vollbremsung“ konstatierte Stephan Wohler, Vorstand bei EDEKA Minden-Hannover, für den Lebensmittelbereich. Nach einem guten 2021 führten die rasant steigenden Preise zu Nervosität bei den Verbrauchern und eine Konzentration auf Preiseinstiegsprodukte statt auf bekannte Marken.
Der BVL-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr.-Ing. Thomas Wimmer zeigte sich ernüchtert: „Die Einschätzungen unserer Vorstandsmitglieder aus Industrie, Handel und Logistikdienstleistung gehen deutlich über die bisher veröffentlichten Prognosen hinaus. Bevor wir vielleicht irgendwann in 2023 eine Besserung erwarten können, wird die Situation bei den Lieferketten und Rohstoffen in den nächsten Monaten deutlich schlimmer werden. Darauf müssen sich Unternehmen wie Verbraucher einstellen.“ Wimmer verwies darauf, dass nicht alle Unternehmen gleichermaßen betroffen sind: „Wenn Unternehmen frühzeitig ihr Risikomanagement angepasst und zusätzliche oder alternative Lieferanten erschlossen haben, wenn die Beziehungen zu Reedereien und Speditionen langfristig gepflegt wurden und so noch Kapazitäten verfügbar waren, sind sie weniger stark betroffen. Aber letztendlich fahren alle zurzeit nur auf Sicht.“
Für die Zukunft müsse sich die Haltung vieler Unternehmen ändern, so BVL-Marktexperte Prof. Dr. Christian Kille: „Unabhängigkeit wird wichtiger, auch Flexibilität und Zuverlässigkeit – und das kostet mehr. Wenn Unternehmen unabhängiger und autarker agieren sollen, sind Investitionen und Partnerschaften mit anderen in der Nähe notwendig, auch in bisher vernachlässigten Regionen. Das Argument der Wettbewerbsfähigkeit bei den Preisen ist vor dem Hintergrund der Konkurrenz aus Fernost nachvollziehbar. Deshalb ist die Änderung des eigenen Mindsets notwendig, um zu hinterfragen, welche Potenziale sich dabei noch verbergen. Kürzere Strecken zahlen z.B. auch auf den Weg zur Klimaneutralität ein, auch ermöglichen sie künftig eine leichter umsetzbare Kreislaufwirtschaft.“